Juliane Schmidt-Pankratz, Detlef Scheer
Eltern hochbegabter Kinder:
Multi-Tasking und voll im Stress zwischen Erziehung, Coaching, Mentoring und Management
Alles fing ganz harmlos an – normal oder?
Im Kleinkindalter war noch nichts besonders auffällig, außer, dass Ihr Kind vieles früher, schneller und anders machte als andere Kinder. Vielleicht testete es aber auch schon jetzt vehement seine Grenzen aus und suchte dabei viele Herausforderungen. Vielleicht schlief es besonders wenig und war extrem wissbegierig. Vielleicht schlief es aber auch ganz normal, aß aber nicht so, wie man sich typische Kindermahlzeiten vorstellt („die einzelnen Nahrungsmittel dürfen sich nicht berühren!“ oder „ich esse jetzt nur Brie auf meinem Brot“– dass das anderthalb Jahre so gehen würde, wusste es da noch nicht). Ihr Kind stellte Ihnen pausenlos Fragen oder saß in der Ecke und schwieg, beobachtete alles ganz genau und fragte dann etwas, was Sie nicht beantworten konnten. Ja, wo Sie sich nicht einmal vorstellen konnten, wie das Kind den Bezug zu solch einem Thema herzustellen in der Lage war.
Als andere begeistert im Kindergarten mit Bausteinen spielen…
Im Kindergartenalter zweifelte es möglicherweise an der Fähigkeit der Erzieherin, Verantwortung für die ihr anver-trauten Kinder zu übernehmen und kritisierte das falsch angewendete Regelwerk bei seinem Lieblingsspiel, die Einfallslosigkeit der anderen Kinder und die Unzumutbarkeit einer Wanderung bei Wind und Wetter in den Wald. - Zumal es ja sonst immer vor Erkältung und sonstigen Gefahren gewarnt worden war! Vielleicht liebte es den Kinder-garten, die anderen Kinder und die herzlichen und aufgeschlossenen Erzieherinnen, die es gestatteten, dass Ihr Kind einen Teil der Zeit im Büro der Leitung mit Büroarbeit verbringen durfte, weil es im Gruppenraum so laut war.
Durchstarten oder Selbstaufgabe in der Schule
In der Schulzeit dann war Ihr Kind eifrig dabei, wenn es um neue Themen ging; erledigte viel über das Dargebotene und das als „Lernstoff“ Angebotene und teilweise auch verlangte hinaus, entwickelte Leidenschaft für Themen, Hobbies und Arbeitsgruppen; es knüpfte viele sehr beständige Freundschaften, die auch über das Überspringen einer Klasse hinaus weiter bestanden. Und auch möglich, dass Ihr Kind vollkommen absackte, keine Hausaufgaben mehr machte, und sämtlichen Spaß an allem verlor. Kein Interesse am Lernen (konnte es das überhaupt?) mehr aufbrachte, nur noch im Zimmer saß und am PC „irgendwas“ machte. Oder den Konflikt in der Schule suchte, in den Augen aller anderen „Quatsch“ machte, rebellierte, kritisierte, (gezielt?) störte und Sanktionen kassierte. Vielleicht hat Ihr Kind auch stundenlang darüber referiert, wie unverantwortlich es ist, Schülern der 9. Klasse eine Physik-Lehrerin zu präsentieren, die das Bose-Einstein-Kondensat nicht erklären konnte oder dass der Kunstunterricht per se zum Boykott einlade. Und immer wieder wurden oder werden Sie in die Schule zitiert: Elterngespräche waren oder sind an der Tagesordnung und Sie fragen sich, wann Sie endlich wieder Vollzeit in Ihren eigenen Job einsteigen können – so und jetzt jedenfalls wird es nicht funktionieren. Nachmittags bleibt Ihr Nachwuchs lieber alleine und erholt sich von den Strapazen des Stressmachens oder des Herunterregulierens am Vormittag. Oder es ist kaum zu Hause, hegt und pflegt seine zahlreichen und sehr unterschiedlichen Aktivitäten, Freundschaften und Engagements und fällt abends zwar zufrieden, aber schon fast besorgniserregend erschöpft ins Bett.
Was heißt schon „hochbegabt“…?
„Was ist all´ diesen Kindern gemein? Wenn es doch etwas Gemeinsames gibt, warum wollen die Ratschläge und Regeln nur nicht auf alle zutreffen? Was kann ich tun, damit wir auch….? Oder was kann ich tun, damit wir nicht mehr ständig…..?“ fragen Sie sich zum hundertsten Male im Familienkreis, ihren Partner oder ihre Partnerin. Vielleicht fragen Sie sich, warum Ihr Kind nicht in die Beschreibungen in den Büchern, Berichten, Ratgebern, Studien usw. passen. Obwohl doch genau zu diesem Thema mittlerweile geforscht wird (siehe dazu weiter unten). Sie stehen unter enormem Druck, alles irgendwie gut und richtig machen zu wollen. Hinzu kommen die üblichen Ansprüche: gesundes Essen, maßvoller Medienkonsum, ausreichend Bewegung, Schlaf und kindgerechte Freizeitbeschäftigung, viel Zeit mit den Kindern verbringen, nicht zu viel rotes Fleisch, keine Plastikklamotten von der Stange, bio-veganes Shampoo, ein ausgeglichenes und vertrauensvolles Verhältnis zum Kind, Dankbarkeit, wenn das Überspringen end-lich geschafft ist, kulturelle Angebote bereit stellen, gutes Benehmen in der Öffentlichkeit und so weiter und so weiter… Und schließlich stellt sich die Liste aller denkbaren Verpflichtungen und möglichen Verfehlungen in der Rolle der Erziehungsberechtigten und -verpflichteten immer mehr als schier endlos und unbewältigbar heraus!
Besonders die Richtlinien und Fördermaßnahmen, lustige Kurse zum Enrichment von Leuten, die sich mit Hochbe-gabung auskennen und darüber forschen, muss man doch irgendwie auf das Kind anwenden können! Und nachdem wir das Ganze Underachievement genannt haben, hat sich irgendwie auch nicht richtig was verändert. Außer dem bitteren Beigeschmack, dass das Kind nicht genug leistet, nicht das bringt, was man eigentlich erwarten könnte… irgendwie will es nicht passen, nicht so richtig. Und Sie fragen sich manchmal, auf wessen Seite Sie eigentlich stehen (sollen)?
Während Eltern nach idealen Wegen suchen, steckt ihr Kind möglicherweise in einem Forced Choice Dilemma fest
Charlotte Bodzin stellte im Rahmen Ihrer Masterarbeit (siehe dazu Wirtschaftspsychologie aktuell; Heft 04/2015, „Hochbegabte: Fachlicher Erfolg oder gute Beziehungen“) fest, dass Jugendliche, die schon in Kindheit und Jugend ein „Forced Choice Dilemma“ erleben, in dem sie sich entscheiden müssen: einfach ausgedrückt zwischen der Gestal-tung für sie selbst guter sozialer Beziehungen oder dem Ausleben ihrer intellektuellen Fähigkeiten, diese Strategie lange weiterverfolgen. Ein Fazit der Artbeit war, dass Kinder und Jugendliche, die ihre Begabung verleugnen, ihre Neugier und Interessen zurückstecken, um in ihren frühen sozialen Beziehungen nicht anzuecken, bzw. diese überhaupt erst aufzubauen, dies mit einer hohen Wahrscheinlichkeit im Erwachsenenalter beibehalten als Strategie, nicht aufzufallen und Konflikten aus dem Weg zu gehen. Eine Strategie, die zwar im Sinne der „sozialen Beziehungs-pflege an sich“ sehr erfolgreich scheint, aber offenbar zu häufigem Stresserleben führt, da ein authentisches Auftre-ten durch die ständige Verleugnung eigener Interessen und Fähigkeiten kaum möglich erscheint. Das passt einer-seits gut zu den jahrzehntelagen Coaching-Erfahrungen des Autors und andererseits zu Recherchen Charlotte Bodzins, nachdem Hochbegabte Erwachsene ein wesentlich höheres Risiko gemobbt zu werden und ein bis zu sechsmal höheres Burnout-Risiko erleben als die Allgemeinbevölkerung. Vermutlich ein Ergebnis des früh erlebten Forced-Choice-Dilemmas, dem mit der Coping-Strategie der Verleugnung begegnet wird. Das eigene Stresserleben steigt dadurch allerdings ganz offenbar auf ein dauerhaft hohes Niveau.
Während das Kind also möglicherweise - und tragischerweise – den Weg des scheinbar geringsten Widerstandes geht und sich versucht um jeden Preis einer scheinbar durchschnittlich oder unterdurchschnittlich intelligenten Umgebung anzupassen, entwickeln die Eltern ein eher hilfloses und belastendes Programm, um doch noch „hilfreich“ zu werden.
Das „Nörgelmutter-Syndrom“
A. und T. Eckerle (2008) beschreiben, wie schwierig es für Eltern ist, die an der Langweile zu ersticken drohenden Kinder irgendwie aufzufangen. Die hochbegabten Kinder flüchteten sich in der Schule in Tagträumereien, oppositio-nelles Verhalten, Leistungsverweigerung, usw.. Oft versuchen Eltern, das Scheitern des Kindes durch Hausauf-gabenhilfe, Bedrängen, Lernen, Nörgeln und anderem abzuwenden. Zu Hause entwickelt sich dann auf Dauer eine Art Stellvertreterkrieg, der alle belastet und zu Verstrickungen zwischen Mutter oder Vater und Kind führt. Das Kind büßt seine Handlungsmacht und die Eltern ihre Solidarität zum Kind ein.
Kinder wechseln zwischen Lethargie und Wut und betonen ihre Entscheidungsfreiheit bis aufs Äußerste. In der Schule kommt es dann u. U. zu Ausgrenzung und Entwertungen. Die Bekenntnis der Eltern zu ihrem hochbegabten Kind, zu Hochbegabung an sich, die empathische Kommunikation, das Akzeptieren der Gegebenheiten und die unermüdliche Suche nach Partnern und Kooperationen in und außerhalb der Schule kann der Familie viel Belastung nehmen und den Weg für das Kind öffnen, tatsächliche Handlungsfreiheit zu entwickeln.
Es gibt keine Rezepte, aber viele Möglichkeiten
Das einzige, was hochbegabte Kinder miteinander gemeinsam haben, ist die Hochbegabung, das heißt, ein Intelligenzquotient um 130 und mehr. Mehr nicht. Allerdings auch nicht weniger, aber so weit sind Sie noch nicht….
Das, was Sie zu Hause, in und mit der Schule oder mit Freunden Ihres Kindes oder in den Hobbies erleben, ist einzigartig für Ihre Situation. Für Ihre Erfahrungen, Ihren Lebensstil, Ihren Beruf, Ihre eigene Begabung, Ihre Biografie, Ihre Elternschaft. Ihre Familie, Ihr Kind und Ihren Standpunkt gegenüber Hochbegabung, für Ihre Werte, und so weiter gibt es nicht „DIE Anwendung“. Es gibt für Vieles hilfreiche Literatur, Austausch mit anderen, Coaching mit Professionellen, erfahrene Lehrkräfte, Denkmodelle und Kurse für Ihr Kind. Vielleicht auch Therapie. Aber kein Patentrezept für „die Hochbegabten an sich“. Vielmehr finden Sie in Ihrer Situation einen gangbaren Weg nur bei sich und in Ihrer Familie und nur zusammen mit Ihrem hochbegabten Kind und in intensiven Austausch mit ihm und der Bereitschaft, viel zu dafür geben. Und das ohne Garantie, genauso viel wiederzubekommen, auch wenn das eigentlich selbstverständlich erscheint.
Kindermund tut Wahrheit kund
Ihr Kind hat sicherlich ein ausgebautes Repertoire an Ideen, genau dies alles zwar unbewusst und vermutlich auch ungewollt, aber dafür umso treffsicherer auf die Probe zu stellen und Sie dazu zu bringen, Farbe zu bekennen: „Was willst du eigentlich genau von mir?“ „Na, und? Ich bin aber nicht „die anderen“!“ „Wenn ich wäre wie die anderen, würdest du fordern ich solle mich mal ein bisschen von den anderen „abheben“!“ „Warum nörgelst du dauernd an mir herum?“ „Warum darf ich nicht selbst meine Talente verwalten, Mathe interessiert mich einfach nicht, auch wenn ich es kann!“ „Der Kung-Fu-Lehrer ist blöd, bringst du es mir bei?“ „Hast du nichts Besseres zu tun, als hier zu warten, dass ich auch dem Quark komme? Du verschwendest deine eigenen Talente!“ „Warum wird hier eigentlich nie das Wort „Hochbegabung“ genannt?“ „Versteh mich doch, du bist doch meine Mutter!“ „Wenn Ihr das dürft, warum darf ich das nicht….hm?“ „Ihr traut euch aus eurer spießigen Welt einfach nicht heraus, ich schon!“ und das Ganze mündet dann in eine Dauerauseinandersetzung, die man kaum noch als “Pubertät“ bezeichnen kann… Sie kennen die Faustregel vielleicht noch nicht: „Hochbegabte pubertieren an einem Samstag von 15.35 Uhr bis um 15.52 Uhr oder das ganze Leben lang!“
Und selbst, wenn Sie schon wissen, dass Sie selbst hochbegabt sind, kommt ihr Kind noch auf die Idee, ihre Grundpfeiler auf Standfestigkeit zu überprüfen und das ist Ihre große Chance, das auch noch einmal zu tun, wie es „Rabenkind“ eindrucksvoll in „Kluge Mädchen“ (Fietze, K.) beschreibt: „Also habe ich eine altkluge kleine Tochter, die mir ständig Paroli bietet, die nicht vor mir kuscht, sondern ihren Willen lautstark bekundet. (…) Dennoch fühle ich mich von Zeit zu Zeit machtlos und wünsche mir, sie würde in die „Norm“ passen. In solchen Momenten rufe ich mir das Bild vor Augen, wie sie glücklich aus Papier, Eisstielen und sehr viel Tesafilm einen Segelflieger baut und denke: „Nein, es ist gut so!““
Begeben wir uns auf die Reise und entdecken unsere ganz eigene Art zu leben und zu denken, zusammen mit unseren (hochbegabten) Kindern! Dafür müssen wir nicht nur erziehen - wir begegnen auf Augenhöhe, entwickeln uns selbst, fragen, hören zu, konstruieren, reflektieren, revidieren, unterstützen, schlagen vor, probieren aus und sind Partner, Coach, Mentor und Eltern.
Während des diesjährigen Elternseminars zu diesen Themen tauschen Sie sich im Reflecting Team (bestehend aus Eltern hochbegabter Kinder/Jugendlicher) aus und lösen Probleme gemeinsam im Team auf, weil Sie sich in dieser Elterngruppe genau zuhören, hinterfragen, konstruieren, reflektieren, revidieren, unterstützen, vorschlagen und im Anschluss ausprobieren und sich selbst entwickeln.
Zudem gibt es kurze Impulsvorträge zu den Themen Hochbegabung an sich, Glaubenssätze, Reframing, Rollen-verständnis, u.v.m. Weitere Infos unter: www.coaching-fuer-hochbegabte.de und www.juliane-schmidt-pankratz.de
Literaturhinweise:
Bodzin, Charlotte und Scheer, Heinz-Detlef: Hochbegabte: Fachlicher Erfolg oder gute Beziehungen, in Wirtschaftspsychologie aktuell; Heft 04/2015
Meschkutat, B., Stackelbeck, M. & Langenhoff, G. (2002). Der Mobbing-Report. Eine Repräsentativstudie für die Bundesrepublik Deutschland. (Schriftenreihe der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Fb 951). Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW
Eckerle, A. & Eckerle, T., 2008. Ursachen misslingender Schulkarrieren von hochbegabten Kindern. In: H Seibt, A. Eckerle, S. Richter, P. Nagel. Praxis der Arbeit mit Hochbegabten (Arbeitstitel). Münster: LIT Verlag. Im Internet unter http://www.hochbegabtenhilfe.de/L180de/Aktuelle Information/Neue Texte/
Fietze, K., 2010. Kluge Mädchen – Frauen entdecken ihre Hochbegabung. Berlin, Orlanda Frauenverlag GmbH.
Scheer, H.-D. (2010). Wie ich werde, was ich bin (Selbst-)Coaching für hochbegabte Erwachsene. Norderstedt: BoD, in Überarbeitung